Aus dem Deutschen Bundestag:

zum Waffengebrauch im Grenzdienst – Debatte vom 4. März 1964

Deutscher Bundestag – 4. Wahlperiode – 118. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. März 1964

 

Seite 5414 (A) bis Seite 5415 (D) des Protokolls

Vizepräsident Dr. Dehler: Frage VII/10 – des Herrn Abgeordneten Günther –:

Hält die Bundesregierung die Anwendung staatlicher Gewalt in der Form, wie sie in Lichtenbusch bei Aachen zum Ausdruck kam, wo ein Zollbeamter am 22. Februar 1964 einen flüchtenden Schmuggler erschoß, für ein rechtmäßiges und zweckmäßiges Mittel?

Bitte, Herr Bundesfinanzminister!

Dr. Dahlgrün, Bundesminister der Finanzen: Die Bundesregierung und ich selber bedauern wie Sie alle diesen tragischen Unglücksfall ganz außerordentlich. Die Justizbehörden in Aachen führen wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung Ermittlungen gegen den beteiligten Zollsekretär, durch dessen Schußwaffengebrauch der Todesfall verursacht worden ist. Das Ergebnis dieser Ermittlungen der Justiz liegt noch nicht vor. Ich kann deshalb nicht sagen, Herr Kollege Günther, ob die Voraussetzungen für den Schußwaffengebrauch nach dem Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes vom 10. März 1961 gegeben waren und daß damit die Handlungen des Zollbeamten rechtmäßig waren. Die Entscheidung darüber und damit die Antwort auf die gestellte Frage ist allein Recht und Pflicht der Justiz.

Zur Rechtslage im allgemeinen, Herr Kollege, darf ich noch folgendes kurz ausführen. Rechtsgrundlage für den Waffengebrauch durch Zollbeamte ist das bereits erwähnte Gesetz vom Jahre 1961, also ein verhältnismäßig junges Gesetz über den unmittelbaren Zwang. Nach § 9 Nr. 2 gehören Zollgrenzdienstbeamte zu den zum Schußwaffengebrauch Berechtigten, wobei der Schußwaffengebrauch nach diesem Gesetz das äußerste Zwangsmittel bei Ausübung des unmittelbaren Zwanges ist. Im Grenzdienst können, wie § 11 des Gesetzes bestimmt, Schußwaffen gegen Personen gebraucht werden, die sich der wiederholten Weisung, zu halten oder die Überprüfung ihrer Person oder der etwa mitgeführten Beförderungsmittel und Gegenstände zu dulden, durch die Flucht zu entziehen versuchen. Das Anhalterecht ergibt sich aus § 71 des Zollgesetzes. Die Weisung anzuhalten, wird im allgemeinen mündlich gegeben. Sie kann nach § 11 Abs. 1 des Gesetzes über den unmittelbaren Zwang durch einen Warnschuß ersetzt werden, wenn anzunehmen ist, daß sie nicht verstanden wird. Das mit dem Schußwaffengebrauch verbundene Risiko für Leib und Leben ist gegenüber dem erzielten Erfolg, die Flucht schmuggelverdächtiger Personen zu verhindern, besonders gewissenhaft abzuwägen. Das Gesetz stellt deshalb in seinem § 4 den wichtigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf. Ein Zollgrenzdienstbeamter darf demnach nicht von der Schußwaffe Gebrauch machen, wenn er z. B. den Fliehenden durch Nachlaufen einholen kann oder einwandfrei erkennbar ist, daß der Fliehende nur wenig Schmuggelware bei sich führt. Nach § 12 darf der Zweck nur sein, angriffs- oder fluchtunfähig zu machen. Es ist also z. B. bei Kraftfahrzeugen anzustreben, die Bereifung, den Tank, den Motor oder den Kühler zu beschädigen.

Der tragische Unglücksfall, Herr Kollege Günther, hat mich veranlaßt, gemeinsam mit dem federführenden Herrn Bundesminister des Inneren Erwägungen darüber anzustellen, ob nicht durch eine Änderung der Vorschriften solche Vorkommnisse in Zukunft vermieden werden können. Auch sind bereits die Fraktionen des Hohen Hauses, insbesondere der Herr Vorsitzende des Innenausschusses, bei diesen Überlegungen eingeschaltet.

Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage Herr Abgeordneter Günther!

Günther (CDU/CSU): Herr Bundesminister, ist dem Unglücksschützen bekannt gewesen, welche Mengen Schmuggelware der Getötete bei sich gehabt hat, und ist ihm weiter die Nummer des Fahrzeuges bekannt gewesen? Das Moped ist ja mit einer Versicherungsnummer versehen. Hätte es auf Grund dieser Kenntnis nicht in seinem Ermessen gelegen, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen?

Dr. Dahlgrün, Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege Günther, die Frage, die Sie stellen, bildet meiner Ansicht nach den Kern des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens. Ich kann dazu natürlich nur sehr schwer etwas sagen. Nach den Berichten, die ich vorliegen habe – ich muß also ausdrücklich einschränken: nach den Berichten, die ich vorliegen habe –, habe ich nicht den Eindruck, daß der beteiligte Zollsekretär das gewußt hat; denn die Stelle, an der der Unglücksfall passierte, liegt verhältnismäßig sehr weit von der Stelle entfernt, an der der Betreffende die Grenze überschritten hat. Die Beamten, die ihn dort schon anhalten wollten, haben die Streife über Funk durch eine dritte Stelle unterrichten lassen. Nach dem ganzen Sachverhalt möchte ich also glauben, daß der Zollsekretär nicht gewußt hat, um was es sich gehandelt hat. Das ist die Tragik in diesem Falle. Aber die Aufklärung obliegt der Justiz. Ich kann und darf nicht selbst ermitteln, sondern kann mich nur nach den Berichten richten.

Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter Günther, bitte!

Günther (CDU/CSU): Herr Minister, ich bin erfreut, zu hören, daß Sie die Absicht haben, das Gesetz bzw. die Anordnungen zum Gesetz so zu ändern, daß sich solche Fälle nicht so leicht wiederholen. Daran anknüpfend aber eine andere Frage! Sowohl auf deutscher wie auf belgischer Seite wurden in der Presse Äußerungen belgischer Zollbeamter wiedergegeben, die gesagt haben sollen: "Bei uns passiert so was nicht, daß auf Menschen geschossen wird." Meine Frage: Ist unser Gesetz bzw. unsere Anordnung strenger als die belgische? Kann nicht angestrebt werden, daß unsere Anordnungen den belgischen und holländischen Anordnungen angeglichen werden, damit wir wenigstens an der Grenze einheitliche Regelungen haben?

Dr. Dahlgrün, Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege Günther, das ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage. Die Grenzen Deutschlands sehen anders aus als die Grenzen Belgiens. Wir haben sehr schwierige Grenzen! Denken Sie einmal an die Alpen, an den Bayerischen Wald, denken Sie an die Zonengrenze! Wir sollten tatsächlich mit dem federführenden Innenminister, dem Justizminister und den interessierten Abgeordneten des Innenausschusses prüfen, ob und was getan werden muß. Ich darf Sie in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß dieses Gesetz erst im Jahre 1961 vom Bundestag einstimmig beschlossen worden ist. Wir müssen das Anhalterecht an der Grenze aufrechterhalten. Das brauchen wir so oder so.

Auf der anderen Seite glaube ich nach den Gesprächen, die ich in den letzten Tagen mit den interessierten Kollegen aus diesem Hause geführt habe, daß die Kernfrage für uns als Mitglieder des Parlaments folgende ist: Inwieweit kann ich die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit bei Einsatz der Schußwaffe einem Beamten in einer Situation aufbürden, wo es schnell geht, wo er in einer gewissen Erregung ist? Geht das Gesetz oder gehen die Verwaltungsvorschriften da nicht über das Beurteilungsvermögen des Beamten hinaus? Das müssen wir sorgfältig prüfen. Die Prüfung soll, wie mir der Herr Vorsitzende des Innenausschusses gesagt hat, in Angriff genommen werden.

Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter Schmitt-Vockenhausen, sind Sie einverstanden, daß zunächst der Herr Staatssekretär des Bundesministeriums des Innern die Fragen VI/10 und 11 – des Herrn Abgeordneten Günther – beantwortet? Sonst geht die Fragestunde zu Ende. – Dann danke ich Ihnen, Herr Minister, und Sie, Herr Staatssekretär beantworten die Frage VI/10 – des Herrn Abgeordneten Günther –.

Ist die Bundesregierung bereit zu prüfen, ob in den gesetzlichen Bestimmungen und den dienstlichen Anordnungen für die vollziehende Gewalt des Bundes die Achtung vor der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens einen entsprechenden Niederschlag findet, wie er sich aus Artikel 2 Abs. 2 und Artikel 102 GG ableiten läßt?

Dr. Hölzl, Staatssekretär im Bundesministerium des Innern: Herr Abgeordneter, Ihre Frage 10 ist schon weitgehend vom Herrn Bundesminister der Finanzen beantwortet worden, nämlich dahin gehend, daß zwischen den beteiligten Ressorts neuerdings überprüft wird, ob das noch sehr junge Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges, das 1961 einstimmig verabschiedet wurde, den Verhältnissen angepaßt werden muß, die sich nun bei dem bedauerlichen Fall gezeigt haben.

Im übrigen darf ich noch darauf hinweisen, daß sich die Sondervorschriften über das Anhalterecht der Grenzorgane bereits seit 1921 in der gleichen Form als geltendes Recht finden.

Vizepräsident Dr. Dehler: Ich rufe die Frage VII/11 – des Herrn Abgeordneten Günther – auf:

Hat die Bundesregierung Anstrengungen unternommen, um zu erreichen, daß der Gebrauch von Schußwaffen für Vollzugsbeamte des Bundes und der Länder nach einheitlichen Gesichtspunkten geregelt wird?

Zu Beantwortung der Herr Staatssekretär.

Dr. Hölzl, Staatssekretär im Bundesministerium des Innern: Das UZwG gilt an sich nur für den Bund und seine Sicherheitsorgane. Der Bundesinnenminister hat aber bei den Ländern angeregt, die Vorschriften dieses Gesetzes inhaltlich als Landesrecht zu übernehmen. Wir können den Ländern dieses Gesetz nicht vorschreiben. In Bayern und Nordrhein-Westfalen ist diese Anpassung des Landesrechtes an das Bundesrecht inzwischen vollzogen worden. Es ist damit zu rechnen, daß die übrigen Länder im Laufe der Zeit diesen beiden Ländern folgen werden.

Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter Schmitt-Vockenhausen zu einer Zusatzfrage.

Schmitt-Vockenhausen (SPD): Ich habe noch eine Zusatzfrage an den Herrn Finanzminister zu stellen. Herr Finanzminister, stimmen Sie mit mir überein, daß die Tatsache, daß ein Gesetz noch verhältnismäßig jung ist und vielleicht Mängel hat, nicht etwa Anlaß sein darf, nicht sofort in eine Prüfung einzutreten? Das Argument ist jetzt beim Herrn Staatssekretär wieder aufgetaucht.

Dr. Dahlgrün, Bundesminister der Finanzen: Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen, ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie es aufgegriffen haben. Es ist ganz selbstverständlich, daß auch bei einem jungen Gesetz Fehler, die sich in der Praxis herausstellten, sofort beseitigt werden müssen.

 


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